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J. W. von Goethe: Iphigenie auf Tauris

Deutschaufsatz, 12. Klasse Wirtschaftsgymnasium

Textgrundlage: vv. 1172-1254

Goethes Schauspiel "Iphigenie auf Tauris", welches 1787 in seiner endgültigen Versform fertiggestellt wurde, dreht sich um einen Konflikt zwischen Wahrheit und Lüge bzw. zwischen Opfer und Rettung, in dem Iphigenie, die Tochter Agamemnons aus dem Geschlecht der Tantaliden, die richtige Entscheidung treffen muss, um den sogenannten Tantalidenfluch, der schon seit Generationen auf ihrer Familie liegt, zu durchbrechen. Sie findet schließlich eine Lösung, die einerseits das Vertrauen, welches König Thoas auf Tauris ihr entgegen bringt, nicht missbraucht, und andererseits die Rettung ihres Bruders Orest und dessen Freund sowie ihre Heimkehr nach Griechenland ermöglicht.

Iphigenie, die nach der Opferung durch ihren Vater und der wundersamen Rettung durch die Göttin Diana nun als deren Priesterin auf Tauris dient, erhält von Thoas einen Heiratsantrag, den sie ablehnen muss, da sie immer noch auf Heimkehr nach Griechenland hofft. Thoas, der bis dahin Iphigeniens Rat befolgte und den alten Brauch der Fremdenopfer aussetzte, droht nun damit, diese wieder einzuführen. Die Gefahr wird konkret, da zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Fremde gefasst wurden: Orest und Pylades. Diese geben sich zunächst nicht als Bruder Iphigeniens und dessen Freund zu erkennen; erst später erfährt Iphigenie davon, als Orest seine wahre Abstammung verrät. Schließlich gibt sich auch Iphigenie zu erkennen: "Orest, ich bin's! Sieh Iphigenien!" (v. 1173).
Dieser und der folgende Vers zeigen die Emotionen in den beiden Figuren: Die Äußerungen Iphigeniens "Ich lebe!" und "Mein Bruder!" lassen darauf schließen, dass Iphigenie eine lang ersehnte Wiedersehensfreude erlebt. Die Kombination der Ausrufe "Du!" und "Lass! Hinweg!" von Orest deuten dagegen darauf hin, dass Orest einerseits überrascht ist, aber andererseits dieses Wiedersehen nicht gutheißen kann. Das hängt damit zusammen, dass sich Orest bereits mit seiner Opferung als Sühne für den Muttermord und als Fortsetzung des Fluches abgefunden hat und nicht wahrhaben will, dass er nun eventuell sogar von seiner Schwester ermordet werden soll, da sie die Priesterin ist. Dies würde den Fluch zu einem erneuten Höhepunkt führen. In v. 1174 findet dreimal ein Sprecherwechsel statt, wodurch die starke Gefühlswallung zum Ausdruck kommt.
Orest vergleicht sein Schicksal mit zwei Mythen: Zum einen mit "Kreusas Brautkleid" (vv. 1176f), dessen "unauslöschlich Feuer" auch Iphigenie erfassen könne, und zum anderen mit Herkules' einsamem Tod (vv. 1178f). Er wünscht sich, dass er allein Opfer des Fluches wird und Iphigenie verschont bleibt (v. 1175).
Iphigenie versucht Orest und sich selbst zu ermuntern (vv. 1180f). Sie hat gehofft, dass sich das lang erflehte Glück endlich erfüllt, und bittet Orest darum, dieses doch zu bestätigen (vv.1182f). Dessen Abwendung von Iphigenie löst aber zusätzlich Schmerz in ihrer Seele aus (vv. 1184f). Diese Unsicherheit wird auch in einer Folge von Enjambements deutlich.
Die rhetorischen Fragen von Orest (vv. 1188f) sind ein Appell an Iphigeniens Vernunft. Doch Iphigenie hält an ihrer lang ersehnten Freude fest und vergleicht sie sogar in einem eindrücklichen Bild mit der Kastalischen Quelle in Delphi, die hell und ewig vom Parnaß "ins goldene Tal hinab [quillt]". Ihre übermäßig emotionale Freude wird wieder in einem Vers mit Ausrufen und einem Sprecherwechsel deutlich: "Orest! Orest! Mein Bruder! [...]" (v. 1201).
Orest unterbricht Iphigenie in diesem Vers und zweifelt ihre Freude nun an, da sie Dienerin Dianens sei (vv. 1201ff). Er versucht, sich emotional von ihr zu entfernen, sagt ihr aber, dass sie sich um die Rettung von Pylades kümmern solle (vv. 1206ff). Iphigenie bittet Orest darum, endlich zu akzeptieren, dass sie seine geopferte Schwester sei, und macht noch einmal klar, dass die Göttin Diana sie vor der Opferung gerettet habe (vv. 1211ff).
Orest wehrt sich nun nicht länger dagegen, zu glauben, dass Iphigenie seine Schwester sei, und sieht nun den Höhepunkt des Tantalidenfluches kommen: "So mag die Sonne denn / Die letzten Greuel unsers Hauses sehn!" (vv. 1223f). Mit der rhetorischen Frage nach seiner zweiten Schwester Elektra drückt er den Wunsch aus, dass auch sie zugegen wäre, damit der Fluch des Tantalos zumindest im Stammbaum Agamemnons seine Erfüllung findet. In v. 1229 verdeutlicht Orest, dass es sich hier um einen Brudermord handele, wenn Iphigenie als Priesterin die Opferung vollführt. Anschließend sieht er jedoch positiv, dass er keine Nachfahren hat, auf die sich der Fluch übertragen könne. Er fordert Iphigenie auf, in die Unterwelt zu folgen. Er rekapituliert noch einmal den Muttermord und ruft die Erinnyen herbei, die sein Gewissen verkörpern. Er spricht seine Schwester von Schuld frei, da er im Fluch die Ursache für sein Schicksal erkennt. In dieser letzten Rede vor seiner Ohnmacht steigert sich Orest in einen solchen Wahn hinein, dass er schließlich kollabiert. Dieser Höhepunkt des Wahns und der folgende "Heilsschlaf" leiten seine Gesundung ein.

Zu Beginn des Textausschnitts behält Iphigenie und ihre Freude die Oberhand. Das wird unter anderem dadurch deutlich, dass sie mehr spricht als Orest. Dies ändert sich aber ziemlich schnell, bis Orests Rede am Ende über 31 Verse geht. Sie kann allerdings nicht als Monolog gesehen werden, da er immer wieder Iphigenie direkt anspricht. Die Häufigkeit der bereits erwähnten Enjambements und die Zäsuren innerhalb der Verse, an denen die Sprecher wechseln, sind Indizien für die Aufgewühltheit der Situation und die Spannung zwischen Iphigenies Freude und Orests Wahn.

Die Tantalidengeschichte und der Fluch sind neben der humanisierenden Wirkung Iphigeniens zentrale Punkte in Goethes Schauspiel. In Auftritt I/3 sind sie Iphigeniens "Trumpfkarte": Thoas will sie heiraten, aber sie lehnt ab. Ihre Hauptbegründung ist die Tantalidengeschichte und der Fluch, der nun auf ihr lastet. Zwar schiebt sie die Schuld für diesen Fluch den Göttern zu, da Tantalos der Aufgabe, zu welcher er bestellt wurde, nicht gewachsen war, doch glaubt sie zumindest Thoas gegenüber an die Wirksamkeit.
In Auftritt II/2 erfährt Iphigenie von der Fortsetzung des Fluches in der eigenen Familie (vv. 880ff): Ihre Mutter Klytämnestra hat ihren Vater Agamemnon ermordet; die Gefahr des Fluches rückt mit der Ankunft ihres Bruders näher und wird bedrohlicher.
Eine weitere Zuspitzung erfährt Iphigenie in Auftritt III/1: "Klytämnestra fiel durch Sohnes Hand." (v. 1038). Orest, ihr Bruder, befindet sich ebenfalls im Bann des Fluches. Der endgültige Höhepunkt scheint der bevorstehende Brudermord Iphigeniens zu sein. Nun ist der Tantalidenfluch in den Mittelpunkt der Handlung getreten: Hilft Iphigenie Orest und Pylades bei ihrem listigen Plan und hintergeht Thoas? Dies hätte die Fortsetzung des Fluches durch Vertrauensbruch und Lüge durch Iphigenie bedeutet und wahrscheinlich auch den Tod, denn Thoas wusste bereits von einem Fluchtplan. Iphigenie durchbricht den Fluch, indem sie Thoas alles anvertraut und an die in ihm vorhandene Menschlichkeit und Besonnenheit appelliert. Die Geschichte der Tantaliden vor Agamemnon, z.B. Atreus und Thyestes, dient dazu, die Gefahr und die enormen Ausmaße des Fluches zu verdeutlichen und zu begründen.

Kommentar:

"Aus den vv. 330-335 geht hervor, welche Verhaltensweisen sich hinter dem Fluch verbergen - darauf müsste man unbedingt hinweisen. [...]"

11 Notenpunkte, Denis Martin, WG 12/2 (GK Deutsch), Schuljahr 1998/99